Stellungnahme der Landes-ASten-Konferenz Baden-Württemberg
zur geplanten Reform der gymnasialen Oberstufe (Entwurf)
Die Landes-ASten-Konferenz Baden-Württemberg lehnt den
Regierungsentwurf zur Neuordnung der gymnasialen Oberstufe, der die
weitestgehenden Abschaffung der Kurssystems zugunsten der
Wiedereinführung verpflichtender Hauptfächer vorsieht, entschieden ab.
Die Ablehnung begründet sich auf folgenden Punkten:
1. Abschaffung der Leistungskurse senkt des Niveau der Kurse
Die Einführung von verpflichtenden Hauptfächern ist im Endeffekt nichts
anderes als die Abschaffung der Leistungskurse. Das führt dazu, dass
wie in der Mittelstufe alle SchülerInnen den gleichen Unterricht
erhalten. Damit ist es unmöglich, das Niveau der Leistungskurse
aufrecht zu erhalten, da sich die Leistungsunterschiede in den Klassen
extrem bemerkbar machen werden und ein Konzentrieren auf die Begabteren
mit Rücksicht auf die Schwächeren nicht mehr möglich ist. Damit werden
die neuen Hauptfächer nie das Niveau der alten Leistungskurse erreichen
können. Dazu werden sich viele SchülerInnen entweder unter- oder
überfordert fühlen, der Anteil derjenigen, die durch den Unterricht
ihren Voraussetzungen entsprechend erreicht werden, wird relativ gering
sein. Der dadurch entstehende Motivationsverlust wird das Anwenden neue
Lehr- und Lernmethoden weitestgehend unmöglich machen.
Es ist ein Trugschluss zu glauben, alle SchülerInnen könnten nur durch
mehr Unterricht auf einen vergleichbaren Leistungsstand gebracht
werden. Was in der Mittelstufe nicht gelingt, wird in der Oberstufe
auch nicht glücken.
2. Eine Schulstunde mehr oder weniger ändert nichts an den Missständen
Die Landesregierung will dem von ihr erkannten Defizit der
OberstufenschülerInnen durch das Aufstocken der Kernfächer (Mathematik,
Deutsch, Fremdsprache) begegnen. Dabei wird in diesen Fächern der
Lehraufwand um eine Stunde pro Woche gegenüber dem alten Grundkurs
erhöht. Abgesehen von der Tatsache, dass die meisten SchülerInnen
ohnehin zumindest eins der vorgesehenen Fächer als Leistungskurs belegt
hatte, wird sich durch diese Maßnahme nichts verbessern. Nicht die
Anzahl der Wochenstunden, sondern die Motivation von Lernenden und
Lehrenden entscheidet über das Maß an Vermittlung von Wissen. Im
Gegenteil ist zu erwarten, dass sich das Über einen Kamm schweren aller
SchülerInnen leistungshemmend auswirkt.
3. Abschaffung der Wahlfreiheit wälzt die Interessensbildung auf die
Hochschulen ab
Mit dem Eintritt in die Oberstufe sollte sich für die SchülerInnen ein
deutlicher Unterschied zu der Mittelstufe bemerkbar machen. Das
vorgesehene Oberstufenkonzept der Landesregierung sieht dies aber nicht
vor. Den SchülerInnen wird die Möglichkeit der Schwerpunktbildung fast
ganz genommen und damit auch Chance, Fähigkeiten und Interessen
auszuloten. Wer in der Schule merkt, dass er oder sie die falschen
Schwerpunkte gewählt hat, wird diesen Fehler nicht wiederholen. Nach
der Reform wird dieser Lernprozess aber ins Studium verlagert, wo ein
Studienabbruch nicht nur Zeit, sondern auch viel Geld (bspw. durch den
Wegfall von BAföG-Leistungen) kostet. Die ohnehin schon hohen
AbbrecherInnenraten werden erneut ansteigen.
4. Mehr Prüfungen heißt nicht mehr Niveau
Entschieden muss dem Argument entgegengetreten werden, mehr Prüfungen
würden das Niveau des Abiturs heben. Das zusätzliche Prüfungsfach hat
anscheinend nur das Ziel, sich gegenüber anderen Bundesländern
überflüssigerweise erneut profilieren zu wollen. Die geringe Zeit aber,
die mit Lernen auf eine Abiturprüfung verbracht wird, wird niemals
dieselbe Wirkung zeigen, wie die kontinuierliche Arbeit in einem nach
Eigeninteresse gewählten Leistungskurs.
5. Literaturunterricht stärkt nicht die Rechtschreibfähigkeiten
Die allgemein bemängelte Rechtschreibschwäche der SchulabsolventInnen
dient der Landesregierung nur als Scheinargument zur Einführung von
Deutsch als verpflichtendes Hauptfach. Realistisch betrachtet ist der
Deutsch-Unterricht nach Klasse 10 aber ein reiner
Literaturkundeunterricht, der sicher nicht wesentlich zur Steigerung
der Rechtschreibkenntnisse beitragen wird. 10 Jahre Schulbildung
sollten reichen, um fehlerfrei schreiben und formulieren zu können;
auch von RealschulabsolventInnen sollte dies erwartet werden
können. Gelingt das den Lehrenden in diesen 10 Jahren nicht, ist dies
kein Versäumnis der Oberstufe. Stattdessen sollten sprachliche und
argumentative Fähigkeiten auch in anderen (bspw. den
gemeinschaftskundlichen Fächern) stärker berücksichtigt werden.
6. Das durch die Schule vermittelte Wissen wird überschätzt -
Allgemeine Hochschulreife braucht mehr als pures Faktenwissen
Allgemein wird das in der Schule vermittelte Wissen hinsichtlich eines
folgenden Studiums stark überschätzt. Gerade in den
naturwissenschaftlichen Disziplinen reicht der Schulstoff nur wenige
Studiumswochen aus. Viel wichtiger ist, in der Schule bereits die
Fähigkeiten zu erlernen, die für ein Studium wichtig sind:
eigenverantwortliches Lernen, Teamarbeit, kritisches Hinterfragen von
Sachverhalten etc. Hinsichtlich dieser Qualifikationen bringt die
Reform keinerlei Verbesserungen, es ist sogar zu erwarten, dass durch
die Abschaffung der Leistungskurse diese Fähigkeiten noch mehr als
zuvor in den Hintergrund gedrängt werden.
Das Erlernen der an den Hochschulen benötigten Methoden und
Qualifikationen wird am besten vermittelt werden können, wenn bei den
Schülerinnen und Schülern eine hinreichende Motivation bzgl. des
Stoffes vorhanden ist. Um dies sicherzustellen, ist die Beibehaltung
des Kurswahlsystems die beste Maßnahme.
7. Deutschland braucht eigenverantwortliche AbiturientInnen
Gerade aus konservativen Kreisen wird immer wieder bemängelt, dass die
deutschen SchulabsolventInnen zu alt seien und dass in anderen Ländern
früher mit dem Studium begonnen werde. Vor diesem Hintergrund ist es
nicht nachzuvollziehen, warum den deutschen SchülerInnen die
Wahlfreiheit in der Schule abgesprochen wird, wenn im Ausland die
jungen Leute in dem Alter bereits studieren und sich somit bereits fest
für ein Fach entschieden haben. Im Gegenteil könnte und sollte eine
reformierte Oberstufe die SchülerInnen bereits insoweit zur
Selbstverantwortung schulen, dass ein späteres Studium leicht
angegangen werden kann. Dieses Ziel wird durch die geplante Reform
nicht nur nicht erreicht, sondern geradezu konterkariert.
Die OberstufenschülerInnen in Deutschland sind zu Beginn der Oberstufe
16 oder 17 Jahre alt. In einem Alter, das zum Wählen zumindest von
kommunalen Parlament befähigt, sollte man auch in der Lage sein, seine
eigenen Interessen erkennen zu können und danach seine Kurse zu wählen.
8. Allgemeinbildung heißt nicht, dass alle das Selbe wissen
Die Zielvorgabe der Stärkung der Allgemeinbildung wird nicht damit
erreicht, dass alle SchülerInnen die gleichen Fächer zu belegen haben
und die gleiche Prüfung abzulegen haben. Vielmehr ist Allgemeinbildung
die Fähigkeit, sich in Sachverhalte schnell eindenken zu können, sich
selbst schnell Wissen aneignen zu können und mit anderen dieses Wissen
teilen zu können. All dies sind Fähigkeiten, die am besten in einem an
den Interessen der SchülerInnen orientieren Unterricht, also in einem
Kurssystem, gefördert werden können. Was in einer Abiturprüfung
abgefragt wird, ist nicht mehr als Maß für Allgemeinbildung zu
verstehen wie ein Sieg in einem Kreuzworträtselwettbewerb.
9. Die gemeinschaftskundliche Bildung bleibt auf der Strecke
Im vorgesehenen Reformkonzept werden die gemeinschaftskundlichen
Disziplinen wie Geschichte, Sozialkunde oder Politikunterricht am
stärksten geschwächt, da sie nur noch als sogenanntes »Neigungsfach«
belegt werden können. Da dieses Neigungsfach aber faktisch die einzige
verbliebene Wahlmöglichkeit ist, ist zu erwarten, dass sich viel
weniger SchülerInnen für diese Fächer entscheiden werden und anderen
Kursen den Vorzug geben werden. Diese Zurückstellung der
gemeinschaftskundlichen Disziplinen ist, gerade angesichts zunehmender
Defizite der SchülerInnen in diesen Bereichen nicht hinnehmbar.
Fazit
Das von der Landesregierung vorgesehene Reformkonzept bringt für keine
der von den InitiatorInnen vorgegebenen Zielsetzungen eine
Verbesserung. Statt individuell die Stärken und Schwächen des/der
Einzelnen auszuloten, wird ein starres Schema über die Oberstufe
gelegt.
Es ist kein Geheimnis, dass Baden-Württemberg die reformierte Oberstufe
nur widerwillig eingeführt hat. Diese Reform ist der Höhepunkt einer
konsekutiven Abschaffung dieser Idee und ein Schritt zurück in die Zeit
vor 1968. Eine gewisse konservative Romantik ist sicherlich ein Grund
für diese Änderungen.
Der wichtigste Grund dagegen wird von der Landesregierung bewusst
verschwiegen: ein Kurssystem, das auf die Stärken und Schwächen der
SchülerInnen eingeht, kostet LehrerInnenstellen und damit Geld. Durch
die Abschaffung des Kurssystems erwartet Regierung massive Einsparungen
von LehrerInnenstellen. Alle Argumente für diese Reform dienen nur
dazu, diese faktischen Stellenstreichungen zu begründen.
Die angeführten Missstände (mangelnde Vorbereitung auf das Studium,
gravierende Mängel im Umgang mit der deutschen Sprache,
naturwissenschaftliche Defizite etc.) mögen vorhanden sein; mit dieser
Neuordnung der gymnasialen Oberstufe wird man sie allerdings mit
Sicherheit eher verschlimmern als ihnen entgegenzuwirken. Es wird an
Symptomen rumgedoktert, anstatt die Ursachen zu bekämpfen. Die
Landes-ASten-Konferenz fordert stattdessen eine grundlegende
Überarbeitung des gymnasialen Systems ab Klasse 5 und wirkliche
Konzepte, wie die Oberstufe auf ein eine Hochschulausbildung
vorbereiten kann. Eine halbwegs freie Kurswahl muss ein essenzieller
Bestandteil solcher Konzepte sein. Letztendlich muss allen SchülerInnen
eine den individuellen Leistungsmöglichkeiten angepasste Bildung
ermöglicht werden. Insofern ist längerfristig auch das etablierte
dreigliedrige Schulsystem zu hinterfragen.
Am dringlichsten erscheint jedoch eine grundlegende Reform der
Ausbildung des Lehrpersonals hinsichtlich der veränderten
Voraussetzungen in der Oberstufe. Nach der 10. Klasse kann nicht mehr
genauso weiter unterrichtet werden wie in Unter- und Mittelstufe; dem
wird in der LehrerInnenausbildung aber keine Rechnung getragen. Auch
muss ein größerer Schwerpunkt auf die Vermittlung von didaktischem
Wissen gelegt werden.
Die reformierte Oberstufe ist nicht gescheitert, es wurde nur, vor
allem in Baden-Württemberg, nie wirklich versucht, sie auch konsequent
umzusetzen. Eine Einführung des jetzt vorgesehen Systems würde eine
zeitgemäße Schulausbildung dagegen in weite Ferne rücken lassen und das
deutsche Bildungssystem noch weiter zurückfallen lassen.
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