9 argumente gegen die reform der gymnasialen oberstufe in baden-württemberg

diese argumentation verfasste ich im juli 2000 als diskussionsgrundlage für eine stellungnahme der landes-asten-konferenz (lak) baden-württemberg zur geplanten "reform" der gymnasialen oberstufe. leider kam diese stellungnahme in der form nie zu stande. die im februar 2001 von der lak beschlossene fassung hat so wenig mit meinem text zu tun, dass ich nicht mit ihr in verbindung gebracht werden möchte. inwieweit ich meine eigene argumentation in einigen punkten allerdings heute noch in der form aufrechterhalten würde, sei allerdings dahin gestellt.

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Stellungnahme der Landes-ASten-Konferenz Baden-Württemberg zur geplanten Reform der gymnasialen Oberstufe (Entwurf)

Die Landes-ASten-Konferenz Baden-Württemberg lehnt den Regierungsentwurf zur Neuordnung der gymnasialen Oberstufe, der die weitestgehenden Abschaffung der Kurssystems zugunsten der Wiedereinführung verpflichtender Hauptfächer vorsieht, entschieden ab.

Die Ablehnung begründet sich auf folgenden Punkten:

1. Abschaffung der Leistungskurse senkt des Niveau der Kurse

Die Einführung von verpflichtenden Hauptfächern ist im Endeffekt nichts anderes als die Abschaffung der Leistungskurse. Das führt dazu, dass wie in der Mittelstufe alle SchülerInnen den gleichen Unterricht erhalten. Damit ist es unmöglich, das Niveau der Leistungskurse aufrecht zu erhalten, da sich die Leistungsunterschiede in den Klassen extrem bemerkbar machen werden und ein Konzentrieren auf die Begabteren mit Rücksicht auf die Schwächeren nicht mehr möglich ist. Damit werden die neuen Hauptfächer nie das Niveau der alten Leistungskurse erreichen können. Dazu werden sich viele SchülerInnen entweder unter- oder überfordert fühlen, der Anteil derjenigen, die durch den Unterricht ihren Voraussetzungen entsprechend erreicht werden, wird relativ gering sein. Der dadurch entstehende Motivationsverlust wird das Anwenden neue Lehr- und Lernmethoden weitestgehend unmöglich machen.

Es ist ein Trugschluss zu glauben, alle SchülerInnen könnten nur durch mehr Unterricht auf einen vergleichbaren Leistungsstand gebracht werden. Was in der Mittelstufe nicht gelingt, wird in der Oberstufe auch nicht glücken.

2. Eine Schulstunde mehr oder weniger ändert nichts an den Missständen

Die Landesregierung will dem von ihr erkannten Defizit der OberstufenschülerInnen durch das Aufstocken der Kernfächer (Mathematik, Deutsch, Fremdsprache) begegnen. Dabei wird in diesen Fächern der Lehraufwand um eine Stunde pro Woche gegenüber dem alten Grundkurs erhöht. Abgesehen von der Tatsache, dass die meisten SchülerInnen ohnehin zumindest eins der vorgesehenen Fächer als Leistungskurs belegt hatte, wird sich durch diese Maßnahme nichts verbessern. Nicht die Anzahl der Wochenstunden, sondern die Motivation von Lernenden und Lehrenden entscheidet über das Maß an Vermittlung von Wissen. Im Gegenteil ist zu erwarten, dass sich das Über einen Kamm schweren aller SchülerInnen leistungshemmend auswirkt.

3. Abschaffung der Wahlfreiheit wälzt die Interessensbildung auf die Hochschulen ab

Mit dem Eintritt in die Oberstufe sollte sich für die SchülerInnen ein deutlicher Unterschied zu der Mittelstufe bemerkbar machen. Das vorgesehene Oberstufenkonzept der Landesregierung sieht dies aber nicht vor. Den SchülerInnen wird die Möglichkeit der Schwerpunktbildung fast ganz genommen und damit auch Chance, Fähigkeiten und Interessen auszuloten. Wer in der Schule merkt, dass er oder sie die falschen Schwerpunkte gewählt hat, wird diesen Fehler nicht wiederholen. Nach der Reform wird dieser Lernprozess aber ins Studium verlagert, wo ein Studienabbruch nicht nur Zeit, sondern auch viel Geld (bspw. durch den Wegfall von BAföG-Leistungen) kostet. Die ohnehin schon hohen AbbrecherInnenraten werden erneut ansteigen.

4. Mehr Prüfungen heißt nicht mehr Niveau

Entschieden muss dem Argument entgegengetreten werden, mehr Prüfungen würden das Niveau des Abiturs heben. Das zusätzliche Prüfungsfach hat anscheinend nur das Ziel, sich gegenüber anderen Bundesländern überflüssigerweise erneut profilieren zu wollen. Die geringe Zeit aber, die mit Lernen auf eine Abiturprüfung verbracht wird, wird niemals dieselbe Wirkung zeigen, wie die kontinuierliche Arbeit in einem nach Eigeninteresse gewählten Leistungskurs.

5. Literaturunterricht stärkt nicht die Rechtschreibfähigkeiten

Die allgemein bemängelte Rechtschreibschwäche der SchulabsolventInnen dient der Landesregierung nur als Scheinargument zur Einführung von Deutsch als verpflichtendes Hauptfach. Realistisch betrachtet ist der Deutsch-Unterricht nach Klasse 10 aber ein reiner Literaturkundeunterricht, der sicher nicht wesentlich zur Steigerung der Rechtschreibkenntnisse beitragen wird. 10 Jahre Schulbildung sollten reichen, um fehlerfrei schreiben und formulieren zu können; auch von RealschulabsolventInnen sollte dies erwartet werden können. Gelingt das den Lehrenden in diesen 10 Jahren nicht, ist dies kein Versäumnis der Oberstufe. Stattdessen sollten sprachliche und argumentative Fähigkeiten auch in anderen (bspw. den gemeinschaftskundlichen Fächern) stärker berücksichtigt werden.

6. Das durch die Schule vermittelte Wissen wird überschätzt - Allgemeine Hochschulreife braucht mehr als pures Faktenwissen

Allgemein wird das in der Schule vermittelte Wissen hinsichtlich eines folgenden Studiums stark überschätzt. Gerade in den naturwissenschaftlichen Disziplinen reicht der Schulstoff nur wenige Studiumswochen aus. Viel wichtiger ist, in der Schule bereits die Fähigkeiten zu erlernen, die für ein Studium wichtig sind: eigenverantwortliches Lernen, Teamarbeit, kritisches Hinterfragen von Sachverhalten etc. Hinsichtlich dieser Qualifikationen bringt die Reform keinerlei Verbesserungen, es ist sogar zu erwarten, dass durch die Abschaffung der Leistungskurse diese Fähigkeiten noch mehr als zuvor in den Hintergrund gedrängt werden.

Das Erlernen der an den Hochschulen benötigten Methoden und Qualifikationen wird am besten vermittelt werden können, wenn bei den Schülerinnen und Schülern eine hinreichende Motivation bzgl. des Stoffes vorhanden ist. Um dies sicherzustellen, ist die Beibehaltung des Kurswahlsystems die beste Maßnahme.

7. Deutschland braucht eigenverantwortliche AbiturientInnen

Gerade aus konservativen Kreisen wird immer wieder bemängelt, dass die deutschen SchulabsolventInnen zu alt seien und dass in anderen Ländern früher mit dem Studium begonnen werde. Vor diesem Hintergrund ist es nicht nachzuvollziehen, warum den deutschen SchülerInnen die Wahlfreiheit in der Schule abgesprochen wird, wenn im Ausland die jungen Leute in dem Alter bereits studieren und sich somit bereits fest für ein Fach entschieden haben. Im Gegenteil könnte und sollte eine reformierte Oberstufe die SchülerInnen bereits insoweit zur Selbstverantwortung schulen, dass ein späteres Studium leicht angegangen werden kann. Dieses Ziel wird durch die geplante Reform nicht nur nicht erreicht, sondern geradezu konterkariert.

Die OberstufenschülerInnen in Deutschland sind zu Beginn der Oberstufe 16 oder 17 Jahre alt. In einem Alter, das zum Wählen zumindest von kommunalen Parlament befähigt, sollte man auch in der Lage sein, seine eigenen Interessen erkennen zu können und danach seine Kurse zu wählen.

8. Allgemeinbildung heißt nicht, dass alle das Selbe wissen

Die Zielvorgabe der Stärkung der Allgemeinbildung wird nicht damit erreicht, dass alle SchülerInnen die gleichen Fächer zu belegen haben und die gleiche Prüfung abzulegen haben. Vielmehr ist Allgemeinbildung die Fähigkeit, sich in Sachverhalte schnell eindenken zu können, sich selbst schnell Wissen aneignen zu können und mit anderen dieses Wissen teilen zu können. All dies sind Fähigkeiten, die am besten in einem an den Interessen der SchülerInnen orientieren Unterricht, also in einem Kurssystem, gefördert werden können. Was in einer Abiturprüfung abgefragt wird, ist nicht mehr als Maß für Allgemeinbildung zu verstehen wie ein Sieg in einem Kreuzworträtselwettbewerb.

9. Die gemeinschaftskundliche Bildung bleibt auf der Strecke

Im vorgesehenen Reformkonzept werden die gemeinschaftskundlichen Disziplinen wie Geschichte, Sozialkunde oder Politikunterricht am stärksten geschwächt, da sie nur noch als sogenanntes »Neigungsfach« belegt werden können. Da dieses Neigungsfach aber faktisch die einzige verbliebene Wahlmöglichkeit ist, ist zu erwarten, dass sich viel weniger SchülerInnen für diese Fächer entscheiden werden und anderen Kursen den Vorzug geben werden. Diese Zurückstellung der gemeinschaftskundlichen Disziplinen ist, gerade angesichts zunehmender Defizite der SchülerInnen in diesen Bereichen nicht hinnehmbar.

Fazit

Das von der Landesregierung vorgesehene Reformkonzept bringt für keine der von den InitiatorInnen vorgegebenen Zielsetzungen eine Verbesserung. Statt individuell die Stärken und Schwächen des/der Einzelnen auszuloten, wird ein starres Schema über die Oberstufe gelegt.

Es ist kein Geheimnis, dass Baden-Württemberg die reformierte Oberstufe nur widerwillig eingeführt hat. Diese Reform ist der Höhepunkt einer konsekutiven Abschaffung dieser Idee und ein Schritt zurück in die Zeit vor 1968. Eine gewisse konservative Romantik ist sicherlich ein Grund für diese Änderungen.

Der wichtigste Grund dagegen wird von der Landesregierung bewusst verschwiegen: ein Kurssystem, das auf die Stärken und Schwächen der SchülerInnen eingeht, kostet LehrerInnenstellen und damit Geld. Durch die Abschaffung des Kurssystems erwartet Regierung massive Einsparungen von LehrerInnenstellen. Alle Argumente für diese Reform dienen nur dazu, diese faktischen Stellenstreichungen zu begründen.

Die angeführten Missstände (mangelnde Vorbereitung auf das Studium, gravierende Mängel im Umgang mit der deutschen Sprache, naturwissenschaftliche Defizite etc.) mögen vorhanden sein; mit dieser Neuordnung der gymnasialen Oberstufe wird man sie allerdings mit Sicherheit eher verschlimmern als ihnen entgegenzuwirken. Es wird an Symptomen rumgedoktert, anstatt die Ursachen zu bekämpfen. Die Landes-ASten-Konferenz fordert stattdessen eine grundlegende Überarbeitung des gymnasialen Systems ab Klasse 5 und wirkliche Konzepte, wie die Oberstufe auf ein eine Hochschulausbildung vorbereiten kann. Eine halbwegs freie Kurswahl muss ein essenzieller Bestandteil solcher Konzepte sein. Letztendlich muss allen SchülerInnen eine den individuellen Leistungsmöglichkeiten angepasste Bildung ermöglicht werden. Insofern ist längerfristig auch das etablierte dreigliedrige Schulsystem zu hinterfragen.

Am dringlichsten erscheint jedoch eine grundlegende Reform der Ausbildung des Lehrpersonals hinsichtlich der veränderten Voraussetzungen in der Oberstufe. Nach der 10. Klasse kann nicht mehr genauso weiter unterrichtet werden wie in Unter- und Mittelstufe; dem wird in der LehrerInnenausbildung aber keine Rechnung getragen. Auch muss ein größerer Schwerpunkt auf die Vermittlung von didaktischem Wissen gelegt werden.

Die reformierte Oberstufe ist nicht gescheitert, es wurde nur, vor allem in Baden-Württemberg, nie wirklich versucht, sie auch konsequent umzusetzen. Eine Einführung des jetzt vorgesehen Systems würde eine zeitgemäße Schulausbildung dagegen in weite Ferne rücken lassen und das deutsche Bildungssystem noch weiter zurückfallen lassen.

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(c) lutz frommberger, juli 2000

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